Auseinandersetzung Eurythmie Salon

„Wofür stehe ich?“

Motto des Eurythmie Salons an der Alster im September 2021.

Milena Hendel, Thomas Feierabend & Jona Lindermayer | Fotos © Neil Baynes

Zwei Eurythmistinnen und ein Eurythmist, Milena Hendel, Jona Lindermayer und Thomas Feyerabend, alle um die 30 Jahre alt, stellten sich dieser Frage.

Sie antworteten mit Blicken in ihre Arbeiten der letzten Jahre, reflektierten sie, stellten Schwerpunkte heraus, ließen Zukunftsperspektiven zu. Das ‚wofür stehe ich‘ interpretierten sie auch als einen Rückblick darauf, wie sich ihre jeweilige künstlerische, forschende, lehrende und therapeutische Form von Eurythmie entwickelt hat. Sie ließen das Publikum teilhaben an einem Prozess, der längst nicht abgeschlossen ist und hatten den Mut, von Klippen und Sackgassen zu berichten, gleichermaßen auch von Durchbrüchen und neuen Wegen.

Mir ist aufgefallen, dass bei aller Unterschiedlichkeit der Eurythmie Interpretationen eines bei allen drei Künstler:innen ähnlich ist: Sie verlassen – und zwar immer wieder auf’s Neue – ihre jeweiligen Komfortzonen. Gehen weiter, auch ins Unsichere, Unwägbare, Irritierende hinein. Anders gesagt, erschöpfen sie sich nicht im Nacheifern, füttern sich selbst auch nicht mit einem exklusiven Erhabenheitsanspruch¹ oder wiegen sich in der scheinbaren Sicherheit, die Idealisierungen (nicht zu verwechseln mit Ideen!) geben könnten. Sie trauen sich in eurythmische Forschungen hinein, die Fremdes, Zuschreibungen, Überformungen aufspüren. Alle drei arbeiten ebenfalls daran, dies zu verändern. Auch hier nicht stehen zu bleiben.

Als Zuhörende, Fragende und Teilnehmerin an ihren Performances überträgt sich also einerseits die Qualität von Irritation oder von einer Lesbarkeit, die nicht durch gängiges Bewegungsvokabular erleichternd konsumierbar wird. Andererseits berühren diese Arbeiten gerade hierdurch. Ich schaue nicht zu, werde nicht belehrt oder erbaut, sondern bin frei, Eigenes zu finden. Weil drei Künstler:innen Eigenes suchen.

¹ Diesen Begriff verdanke ich Hans Wagenmann (mit Dank zitiert aus einem Gespräch heraus)

Jona Lindermayer | Selbstständig sein

Früher habe ich Platz gemacht, um etwas anderes in den Raum zu lassen – Heute fülle ich mich selbst aus.“

Sie beschreibt unterschiedliche Phasen Ihrer eurythmischen Arbeit in der Kunst, der Lehre und der Therapie. In allen Bereichen hat sie gelernt, lernt sie weiterhin, nicht medial zu arbeiten, nicht dadurch aus sich selbst herauszugehen, sondern in sich selbst zuhause zu sein. Eine Sehnsucht treibt sie an, mit sich selbst authentisch zu sein, sich selbst auszufüllen und zu bewohnen und gleichermaßen im Zusammenhang des Jetzt zu sein, in der Begegnung mit Phänomenen und anderen Menschen.

Jona Lindermayer – MANTO, IN VARIATIONEN | Foto: © Neil Baynes

Eine Phase ihrer Arbeit schildert Jona als ein Umgehen mit Imagination, Intuition und Inspiration. Sie hat sich spüren gelernt, hat geübt, ihren gesamten Körper als ein Wahrnehmungsorgan zu schulen. Imagination entsteht dann in einem innerlichen Sehen eines Zusammenhangs, einer Lichtgestalt, einer sich bildenden Form. Diese Erfahrung, so reflektiert sie heute, wurde zeitweise so stark, dass sie sich wie ‚übernommen‘ fühlte. Intuition ist für sie eine offene Frage. Eine Annäherung an ein Wissen darum, was situativ getan werden muss. Ein Einfall kann sowohl Intuition als auch Inspiration sein. Diese erlebt Jona entweder als ein Loslassen im Gegenwärtigen oder in darin, wenn sich etwas verändernd und lebendig gestaltet. In jedem Fall braucht es eine starke, kraftvolle Anwesenheit ihrer selbst. Sie erzählt von ihrem Streben in äußere und gleichzeitig in innere Kräftebereiche hinein und ihrem Bemerken, dass sie dadurch erst einmal auch auf sich selbst zurückgeworfen wurde: „Es war eine Aufgabe, mich erst selbst wollen zu können. Ehe ich nach außen gehe.“

In einer weiteren Phase übte sie, jene Kräfte oder Ideen an sich heran zu ziehen und zu verdichten, bis sie sie von innen heraus ‚sagen‘ konnte. Was einiges verändert hat: Statt das persönliche Gefühl in eine Gebärde hineinzulegen, ist sie anwesend in der Gebärde. Verlässt sich selbst nicht, um erst dadurch dem eigenen und einem anderen Wesen begegnen zu können. In einer Gebärde anwesend zu sein. Sie spricht hier von einer Liebe – Qualität. Ihr Anliegen für die Eurythmie in dieser Hinsicht: In der Eurythmie als Mensch enthalten zu sein. Auch zu bemerken, wenn Fremdes dort ist und dies auch zu ändern.

Begrifflich arbeitet sie so, dass im Prozess einer Anverwandlung eine Begegnung enthalten ist. „Ich verbinde mich mit dem Eigenen und mit der Erde.“

Thomas Feyerabend | Nüchtern poetisch

„Mein Thema ist die Erinnerung. Ich reduziere und konzentriere, erprobe die Kunst und die Nöte des Weglassens.“

Gerade beim Familientheaterprogramm der Compagnie Orval, bei dem er Ensemblemitglied ist, ist jedoch das genaue Gegenteil ein künstlerischer Griff, schildert er: von allem gibt es sehr viel. Beim Bühnenbild, beim Licht, bei der Bewegung. Die Figuren werden in einem humorvollen, manchmal auch grotesken Stil überzeichnet. Im Moment ist der ‚gestiefelte Kater‘ im Programm. Und hier muss alles stimmen: die Anwesenheit der überbordenden Elemente muss sich eng an die Geschichte anschmiegen, die Bewegung und der Text sind im direkten Kontakt. Das reizt ihn, erzählt Thomas. Sehr bewusst in diese Überzeichnung hineinzuarbeiten, sie zu genießen und gleichzeitig außerhalb der Compagnie Orval ganz anders zu arbeiten.

Thomas Feyerabend – BRAINSTORM – PREVIEW | Foto: © Neil Baynes

So in der Zusammenarbeit mit dem Tänzer Milton Camilo im Stück triple helix.  In Wuppertal experimentiert er hier mit einer Spannungs- und Entspannungsebene, mit dem Atem, mit unterschiedlichen Qualitäten des Körpers. Es gibt kein Textbuch bei dieser Arbeit, keinen Autor, keinen Regisseur. All dies, wie auch Requisiten, wie auch eine erzählerische Struktur, wurde aus dem Umraum herausgenommen, die Reduktion weiter vorangetrieben. Eine große Herausforderung, wie er berichtet, aber eine, die durch diese Unsicherheit und Irritation eine neue Intensität entwickelt.

Eben durch diese Nüchternheit wird es möglich, in Erinnerungsschichten hineinzuwachsen, zu experimentieren mit Identitätsanteilen, die in jedem Menschen hausen, sich jedoch oft der aktiven Er-innerung entziehen. Wenn der Raum um die Person frei wird, wenn alles Ablenkende weggelassen wird, hat dieses Er-innerte eine Möglichkeit sich zu zeigen. Die Eurythmie wird zum Forschungsweg, auf dem dann Ererbtes und Übernommenes erscheint, und der Eurythmist begibt sich auf eine Spurensuche, die auch individuelle und kollektive Traumata zum Vorschein bringen können. Der Wunsch geht dahin, durch weitere Recherche noch besser diese Spuren zu lesen, sie wahrzunehmen und auch zu verändern.

Milena Hendel | Zeitbilder

„Ich transportiere Impulse aus der Gegenwart und möchte etwas anschubsen.“

Ihr Wunsch ist es, Menschen künstlerisch anzusprechen, ein Verstehen zu ermöglichen. Unabhängig davon, ob jemand mit Eurythmie vertraut ist oder nicht. Sie bewegt sich zwischen der Bühne, auf der sie an sich selbst oder an andere Fragen aufwirft und damit arbeitet. Kunst stellt Fragen, die weiter hallen können. Fragen, auf die Menschen vielleicht gar nicht gekommen wären. Eine fragende Haltung ist keine feste, sie impliziert Bewegung, die in vorschnellen Antworten zum Stillstand käme.

Milena Hendel & Odetth Zettel – GeGENDER | Foto: © Neil Baynes

Milena interessiert sich für gegenwärtige politische, soziale, gesellschaftliche Themen, möchte Wachheit und Aktualität in der Eurythmie erproben. Sie arbeitet mit einer Art der Eurythmie, die nicht abseits, sondern inmitten des Weltgeschehens Platz nimmt.

Eine der Arbeiten, für die sie steht, waren in der letzten Zeit ‚WallPaper‘. Sie zitiert hier einen Satz aus diesem Programm: „In ihrem Schatten warfen alle keinen Schatten“. Bewegungskünstlerisch zeichnet sie die Wirkung von Mauern auf einzelne Menschen, auf die Begrenzung von Individualität, die sich durch Mauern ergibt. Die Frage nach dem, was wir sind, woher wir kommen, aus welchen Bildern und Vorstellungen wir gebildet sind oder wurden, welche inneren und äußeren Mauerwerke wir verinnerlichen, hat sie mitgenommen in die Entwicklung des Bühnenprogramms ‚GeGender‘. „Ich bin nicht rot und auch nicht blau, bin nicht ein Mann und auch nicht Frau, nicht lebendig und nicht tot, bin nur ein Mensch…“   dieser Satz taucht immer wieder auf und korrespondiert mit den Interviews zu Geschlechterbildern und -zuschreibungen.  In dieser künstlerischen Arbeit greift sie bewusste und unbewusste Körperperformance auf, die über sich über Jahrhunderte in uns Menschen eingeschrieben haben, und die wir dann irgendwann für ‚natürlich‘ halten.

Wohin geht Milena? Jeden Tag in die Schule, zu Kindern und Jugendlichen und womöglich in eine zweite Folge des Podcasts.


Petra von der Lohe, M.A. | Geboren 1962 im Grenzland zwischen Deutschland und Holland. Lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Bonn. Studium der Germanistik und Kommunikationsforschung in Bamberg und Bonn. Tätigkeiten im Bereich von Politik und Öffentlichkeitsarbeit. Unterrichtet heute an unterschiedlichen Hochschulen Literatur, Kommunikationswissenschaft und poetisches Schreiben.