Auseinandersetzung

Deep Waters

Ein Freiraum zum Abschluss des Artist in Residence Programms des Arbeitszentrums Berlin.

Foto | © Thomas Feyerabend

Am 1. April 2022 fand im Rudolf Steiner Haus Berlin die Abschlussveranstaltung des einjährigen Artist in Residence Programms des dortigen Arbeitszentrums statt. Thomas Feyerabend präsentierte seine Arbeit „Deep Waters“. Eine solche Residenz, wohl die erste, die es ausschließlich für KünstlerInnen gab, die sich der Eurythmie als Bühnenkunst widmen, ermöglichte Thomas Feyerabend, sich über ein Jahr mit einem Thema zu beschäftigen, ohne dabei verpflichtet zu sein, ein Ergebnis im Sinne einer Bühnenvorstellung zu präsentieren. Ein beneidenswerter Freiraum, der zu großen Teilen der Initiative von Birgit Hering zu verdanken ist, die schon die Patchwork Festivals in Berlin ins Leben rief. Thomas Feyerabend wusste ihn für seine künstlerische Forschung, sein Projekt „Deep Waters“, zu nutzen.

So entstand – öffnete man die Tür in den großen Saal des Rudolf Steiner Hauses Berlin – keine Ordnung, die auf eine Bühne hin ausgerichtet war, sondern es wurde eine Art „Innenraum“ sichtbar, der auf der einen Seite von Stühlen begrenzt war und zugleich die Architektur des Raumes in den Blick geraten ließ. In diesem Halbrund des „Innenraums“ stand ein großer Tisch, es lagen Blätter auf dem Boden, und nahm man die Kopfhörer auf dem Tisch, wurde ein Interview, ein Gespräch von Thomas Feyerabend mit seiner Großmutter hörbar. Es lag dort ebenso das epochale Buch „Männerphantasien“ von Klaus Theweleit aufgeschlagen aus. Es war ein Blick in die längst schon begonnene „Lecture“, denn Thomas Feyerabend bewegte sich bereits an den Rändern des Raumes entlang, auf seinem Boden, während manche der Teilhabenden an diesem Abend an den Tisch gingen, in den ausgelegten Materialien lasen, andere sich miteinander unterhielten. Ein Beginn, in dem es keinen Anfang gab und man damit mitten in etwas war, das performativen Charakter besaß, in dem jeder einbezogen war, sich einbeziehen konnte.

Ein sich öffnendes Geschehen, das im Rahmen des über 90minütigen Abends zwischen sprachlichen Erläuterungen und tänzerisch-eurythmischen Teilen pendelnd, seine Gestaltung fand. Ein für die Eurythmie in dieser Performativität selten gesehenes Vorgehen, blicke ich auf meine Besuche in öffentliche Darstellungen eurythmischer Bühnenkunst, in den letzten dreißig Jahren zurück. Ein Schritt, der notwendig geworden ist.

Foto | © Thomas Feyerabend 

Thomas Feyerabend schrieb in seiner Ankündigung: „Mich interessiert, wie wir vererbte Erlebnisse unserer Vorfahren in unseren Körpern und seelischen Dimensionen gewahr werden können. … Können wir überlieferte emotionale Prägungen auflösen und zukünftige Körpererzählungen vielfältiger und friedfertiger Männlichkeit schaffen?“ Jetzt im Nachhinein, für mich als ausgebildeter Eurythmist, richten sich diese Fragen auch an die Eurythmie selbst. Thomas Feyerabend ging ihnen in seinem „Solo-Stück“, wie er es noch traditionell bezeichnet, auf verschiedene Weise nach. So in Recherchen, in der Frage von Gewalt, dem erwähnten Buch „Männerphantasien“, aber auch in Erzählungen aus seiner Familie, wie sein Großvater durch eine zerbombte Stadt im zweiten Weltkrieg als neunjähriger Junge lief. Wie trägt er heute, zwei Generationen später, diese Erinnerungen als Spur in sich? Wie diese in Bewegung sich „auflösen“, wie er es selbst in seiner Ankündigung zu diesem Abend formuliert hat, sich neu auffächern, war beeindruckend an diesem Abschluss seiner Zeit als Artist in Residence erlebbar.

Es wurde an diesem Abend geradezu überdeutlich sichtbar, in den Zeiten in der wir jetzt leben, dass eine eurythmisch tendierte Bewegung, folgte man den Bewegungsforschungen von Thomas Feyerabend, eine Friedfertigkeit besaß, die tief berührte. Man kann diese Friedfertigkeit beinahe als eine Konstante eurythmisch intendierter Bewegung erkennen. Zur gleichen Zeit stellte sich darin aber auch die Frage, gibt es in ihr auch den Raum, die Erfahrung, die Gestaltungsmöglichkeit von Gewalt, von ausübender, wie erfahrener Gewalt?

Sich solchen Auseinandersetzungen, auch im eigenen Tun, im Erleben eigener Körperlichkeit stellen zu können, dafür gab dieser Abend im Rudolf Steiner Haus Berlin dankenswerter Weise in vielfältiger Möglichkeit Anlass. Ein zeitgemäßer Moment, bei dem man gespannt sein darf, wohin sich die Arbeit von Thomas Feyerabend entwickelt.

Es bleibt zu hoffen, dass es in Berlin, aber auch an anderen Orten weitere solche Abende, mit ganz eigenen Gestaltungen und Inhalten geben wird.

Hans Wagenmann, im April 2022


Hans Wagenmann | (geb. 1967)
Eurythmist in sozialen, kulturellen, künstlerischen undwissenschaftlichen Kontexten
Inter- und transdisziplinäre Forschung und Lehre
Performative Kunst an der Schnittstelle von Tanz und Eurythmie
Publikationstätigkeit im Spannungsfeld von Wissenschaft und Dichtkunst