Auseinandersetzung Festival Rezension

„Schauen wir hinein“

Ein persönlicher Nachblick auf das Gleis 2 | 2021 Onlinefestival der Videoeurythmie

Gleis 2 | Foto © EvaMaria Hammon

Im öffentlichen Gespräch mit den Künstler:innen zum Gleis 2 | 2021 Festival, das am 18. Juni per Zoom stattfand, stellte die beteiligte Künstlerin Martje Brandsma an Ihre Kolleg:innen folgende Frage: „Wie ist in jedem einzelnen Videowerk eine Form eurythmischen Bewegens anwesend gewesen? War das relevant oder nicht? Welche Rolle hat die eurythmische Bewegungssprache oder Technik gespielt?“

Hans Wagenmann, der Kurator dieses Festivals, hat den Künstler:innen auf diese Fragen folgendes Essay gewidmet, das ebenso als Nachblick auf das Festival zu lesen ist. Es gliedert sich in: „Kontext“ - „Somatische Bewegungspraxis“- „Geste“- „Ritual“- „Schleier“ und „Verbundenheit“.

Projekte des Gleis 2 | 2021 Onlinefestival der Videoeurythmie:
Cocoon | verantwortlich u.a. Franka Henn
Fenstergleichnis | verantwortlich EvaMaria Hammon
Global Village - Believe the Hype | verantwortlich Marthy Hecker & Tatjana Rudenko
Hang On | verantwortlich Marthy Hecker
hoch.runter | verantwortlich Tatjana Rudenko und Niklas Tischer
Monden Raw | verantwortlich Martje Brandsma & Philipp Tok


Kontext

Seit Jahren stellt sich die Frage nach der Eigenständigkeit, der Art der Artikulation von eurythmischen, tänzerischen und performativen Bewegungen in Eurythmieprojekten und Aufführungen, Performances, die auf Festivals, in Einzelaufführungen oder als Abschlüsse von Eurythmieausbildungen erlebt werden können.

Die Frage nach der Eurythmie in künstlerischen Produktionen ist in den letzten Jahren beinahe als Tabu zu erleben. Es fehlt, und dies seit langem, die kritische und ergebnisoffene Auseinandersetzung und Klärung, was eine Bewegung zu einer eurythmischen oder einer eurythmisch tendierten werden lässt, wie diese geschieht und wie das geschehen könnte.

Die Auseinandersetzung um die Frage nach der Eurythmie, ihrer Begründung, wie Zeitgenossenschaft, war in den Jahren um die Jahrtausendwende virulent, für einen Moment offen. Deutlich setzten sich damals Jurriaan Cooiman, Ernst Reepmaker und Weitere für eine „New Eurythmy“ ein. Heute stehen wir an einem anderen, nicht weniger dringlichen Punkt. Schauen wir hinein!


Somatische Bewegungspraxis

Beim jetzigen Gleis 2 | 2021 Festival ist auffällig, und das steht in einer gewissen und schon länger andauernden Tendenz, in der Off-Eurythmieszene, z.T. aber auch von den Traditionen der Alanus-Hochschule ausgehend, dass viele Bewegungen von ihrem Duktus, besonders in den Videos Hang On, hoch.runter, Cocoon und in Teilen von Global Village | Believe the Hype von einer „somatischen Eurythmie“ geprägt sind. Eine eurythmische Bewegung, die in einem Teil ihres Verständnisses vor den eurythmischen Lauten, Tönen, in den meisten Fällen noch vor den sog. eurythmischen Kunstmitteln liegt. Auch wenn z.B. bei Cocoon bewusst und deutlich mit eurythmischen Lauten, eurythmischen Lauttendenzen umgegangen wird, bleibt ein großer Teil der Wahrnehmung dort im Bereich des Somatischen. Die Frage, die sich stellt ist, wie geschieht die Artikulation einer Bewegung, ihr Bezug zu einem sich bildenden oder vorausgegangenen Bewegungsmotiv, sowie zu den eurythmischen Kunstmitteln so, dass sich Substanz entwickelt, die sich über ihre eigenen, in ihr gebundenen Inhalte hinaus ausspricht und öffnet? Dies wäre ein möglicher Beginn von Kunst.

Im Wahrnehmen der Videoschnitte und der jeweiligen Kameraführung der einzelnen Videoprojekte scheint die somatische Bewegungspraxis, auch durch die Möglichkeit der Nähe der Kamera gegeben zu sein und damit Ausschnitte von Bewegungen, Choreographien sichtbar werden. Denn davon ausgehend wird der Blick auf die Bewegungen selbst gerichtet, dem wie und ob sie vom Körper aus beginnen oder ob eine Bewegung den Körper erreicht und formt, er von dort möglich wird, auch in einer möglichen Auflösungs- oder Transformationstendenz. Es zeigt sich ein in der Videoeurythmie spezifischer Umgang mit dem Umraum, mit den Orten, an dem die verschiedenen Arbeiten entstanden sind, dem wie und ob sie in einer somatischen Resonanz in die Projekte einbezogen wurden.


Geste

Ein zweiter Hinweis ist, dass in vielen Projekten von Gleis 2 mit der eurythmischen, wie anthropologischen Urgeste des Aufrichtens gearbeitet wird. In Cocoon ist deutlich der Weg bis zur Aufrechte hin erfahrbar, in der dieses Projekt endet. In Hang On wird eine Art von Spiegelung dieser Haltung sichtbar. In der ersten Geste von hoch.runter und in Teilen von Global Village | Believe the Hype wird dies ebenso zur Wahrnehmung. In Monden Raw ist die aufrechte, gehende, wie stehende Gestalt Voraussetzung und Beginn; in Fenstergleichnis gibt es Stellen am Fenster, in der die Aufrechte der Gestalt, gerade durch das Bildnis der horizontal gestreckten Arme deutlich wird, als etwas im Verhältnis Stehendes, sich immer wieder neu Ausbildendes.


Ritual

Der dritte Hinweis beginnt bei Global Village | Believe the Hype. In Teilen dieser Arbeit bewegt sich Tatjana Rudenko in einem traditionell eurythmischen Bezug zur Sprache, dies gefärbt in der Nähe zu eurythmischen Seelengesten und dabei in einem deutlichen Bezug zur eigenen Körperlichkeit. Von dieser Sichtweise aus nähert sich die Bewegung dort einem symbolischen Verstehen und Mitteilen. Es wird darin eine Nähe zum Rituellen der Eurythmie bemerkbar, dem dass geistige Prozesse in ihr Bewegung, bzw. leiblichen Haltung werden. Ein Rituelles, das sich auf andere Weise auch in Cocoon zeigt, einerseits in den Stirnmalen des dritten Abschnitts, andererseits in der Haltung, der chorographischen Aussprache, wie dort Martje Brandsma mittig im Bild als beinahe göttlich anscheinende Gestalt aufscheint. Dies freigelegt durch die Kameraführung von Xue Li, aber wohl auch durch die Choreographie von Franka Henn intendiert.


Metapher

In vielen Arbeiten des Festivals wird die Metapher des Lichts deutlich. Genannt werden kann das Ende von hoch.runter, aber auch dessen Beginn mit dem einen Lichtstrahl im Dunklen; der Mondschein bei Monden Raw, dem dass die tanzende Gestalt dort meistens im Blick auf das Mondlicht gezeigt ist. Aber auch die Momente der Projektion bei Fenstergleichnis sind ein Teil dieser Metapher, die Augenblicke dort im Fenster; das Heraufkommen aus der Unterführung bei Global Village | Believe the Hype. Ebenso, auch das ist eine bekannte eurythmisch-choreographische Metapher, ist die sich bewegende Person in den Videoarbeiten immer wieder im Zentrum des gewählten Bildausschnitts und bildet darin einen Halt aus. Was geschähe, würde diese choreographische Setzung gezielt verlassen und die eurythmischen Tanzenden an den Rand gerückt werden?


Schleier

Ein weiterer Hinweis beginnt bei der Arbeit Fenstergleichnis. Hier zeigt sich, als ein Hinweis das Eurythmische im Verhältnis der im Video sichtbaren Bewegungen untereinander, in ihrem Bezug zueinander. Es entsteht ein Öffnen des eurythmischen Schleiers als phänomenologische Qualität, die sich zeitgemäß von einer Gefühlsbindung löst und sich dadurch als Bewegung selbst, in einer bewussten, aber nicht restlos gesteuerten Weise ausspricht.

In anderen Arbeiten ist die Bewegung des eurythmischen Schleiers anders zu fassen. In Cocoon ist es schon thematisch gegeben, neben dem realen Umgang mit eurythmischen Schleierstoffen, dem was sie an Bewegungen zulassen, aber auch begrenzen. In dieser, wie in anderen Arbeiten ist „Schleier“ auch in den Überblendungen des Videoschnitts sichtbar und er wird darin auch Metapher mehrerer gleichzeitig andauernder Lebensmomente. Wäre dies per se eine eurythmische Schleierqualität? In Global Village | Believe the Hype sind es die anderen sichtbaren Performer, die im Umraum verbleiben, während Tatjana Rudenko das Zentrum bildet. In Hang On wird Alltägliches, sein in Szene setzen Umraum. So die Abwesenheit vom lebendigen Körper, der Geisterhaftigkeit der Puppe auf der Schaukel, dem was sich darin an Nichtausgesprochenen, an Hinterlassenem ausdrückt. Ist gerade das Nichtausgesprochene, das Hinterlassene einer Bewegung das, was sie als phänomenologischen Schleier umgibt und in einen Zusammenhang einbettet?


Verbundenheit

Der letzte Hinweis beginnt bei der Arbeit Monden Raw. Dort ist die Bewegung in tief verbundener Treue zur Eurythmie verankert und gewinnt einen weiteren Lebensmoment dadurch, dass Martje Brandsma als mehrfach sichtbare Gestalt im selben Augenblick mehrerer Videoschnitte aufscheint. Es ist darin zu bemerken, dass sie, wie zwischen Empfängnis und Gebären, pendelt, – eben mitten in der Nacht und dabei auch an Gemälde der deutschen Romantik erinnernd, den Blick nicht ins Blickfeld des Betrachters gerichtet. In ihrem Laufen zu Beginn von Monden Raw erscheint deutlich ein Mensch, eine Frau auf dem Weg. Ein Beginn aus reiner Bewegung und doch auch ein Bildnis, das zum Verständnis dieser Arbeit, aber auch anderer Videoarbeiten des Festivals verhilft, sie im Sehen nochmals anders öffnet. Denn als könnte oder wollte ich damit in jede der Arbeiten hineinlaufen, sitze ich vor ihnen und betrachte sie.

Video wird hier, wie in vielen Arbeiten des Festivals zu einem choreographischen Partner, zum choreographischen, wie bildlichen Co-Autor oder zum Gegenpart der jeweils gestalteten Bewegungen und Choreographien. Es ersetzt dabei keinesfalls das Publikum oder die Bühne in einer Aufführungssituation, sondern bietet andere, durchaus kontrovers anzusehende, Mittel der künstlerischen Gestaltung und Teilhabe. Bleiben wir damit auf dem Weg!


Hans Wagenmann, Juli 2021