Arbeitsblatt

Fragen an die Szene

Einladung zum Diskurs

Die offensiv-kritischen Fragen, die hier gleich geäußert werden, sollen nicht den Eindruck erwecken,
es gäbe überhaupt keine professionell arbeitenden Eurythmie-KünstlerInnen oder Ensembles. Denn die gibt es selbstverständlich! Und es ist ein Anliegen des Quo Vadis Eurythmie Impresariats gerade diese KollegInnen und ihre Produktionen mehr in Erscheinung treten zu lassen und aber auch das Feld zu erweitern. Zu dieser Zeit gibt es allerdings in Europa nur wenige nennenswerte Orte, wo günstige Bedingungen für professionelle Bühnenarbeit mit Eurythmie gegeben sind. Nach 100 Jahren können wir noch nicht von einer positiven bzw. nachhaltigen Entwicklung sprechen. Das Bild ist m.E. leider eher besorgniserregend.

  1. Anlass

Aber: Befinden wir uns mit der eurythmischen Kunst vielleicht in einer Wende-Zeit? Wer sieht die Möglichkeiten, Herausforderungen und Chancen dieser Jetzt-Zeit für Eurythmie als Bühnenkunst? Wie sehen diese aus?

Wo stagniert es? Wo erscheint Neues? Wie kommt es zu neuen Ideen und Impulsen unter und mit uns? Gehen wir davon aus, dass es Sinn macht mit Eurythmie als Kunst weiterzumachen.

Welche Motive beflügeln, begeistern uns?

Wo gibt es impulsgebende Ansätze? Zeitgemäße Qualität? Offensive Fortschritte? Visionen? Sinnstiftendes? Wo sehen wir professionell durchgeführte Arbeit, die, wenn sie in der Szene bekannt(er) sein würde, Andere anregen könnte? Wo finden Paradigmenwechsel statt? Wo werden Anachronismen, Dogmen und festgezurrte Muster überwunden?

Wo also ereignet sich jetzt eine Wende in der eurythmischen Kunst?
 Gefordert sind ein wachsames Auge und Ohr! Bewusstsein für eine ganze Bewegung bzw. für etwas, was sich gerade im eigenen Umfeld ereignet …

  1. Professionelle Bühnenarbeit

Wie entsteht Professionalität? Was sind hier die anzustrebenden Kriterien? Haben wir die klar vor uns?
 Was sind Merkmale um eine Bühnendarstellung als qualitativ hochwertig zu bezeichnen?

Ist es nicht dringend an der Zeit, uns darüber sehr konkret Gedanken zu machen?

Und uns darüber im größeren Rahmen auszutauschen? Gibt es Zukunftsvisionen? Wo gibt es diese? 
Wo sind die Genies? Kann es überhaupt Genies unter uns geben? Hätten sie Chancen?

Diversität im Bühnen-Eurythmie-Angebot. Gab/Gibt es die? Von klassisch bis hin zu avantgardistisch/absurdistisch?

Wer repräsentiert welche Richtung/Strömung? Welchen Stil? Gibt es so etwas wie ‚zeitgemäß’? Wird entsprechend dramaturgisch gearbeitet? Wird überhaupt mit Dramaturgie als eigenständige Disziplin im Produktionsprozess gearbeitet? Wo? Und wie? Was nehmen wir wahr?

Aufführungen / Produktionen / Performances / Eurythmie-Theater / Site-specific Performances / Mitwirken in Produktionen mit anderen Künsten (disziplinübergreifend) usw. / Welche Ensembles haben in diesem Sinne ein Repertoire?

Haben wir kompetente ChoreographInnen unter uns? Oder DramaturgInnen? Wo sind diese tätig? Mit welchen Ensembles?

Gibt es so etwas wie eine Eurythmie-Szene? Was wären Kriterien um diese Frage zu bejahen? Warum ist eine Szene notwendig?

Haben wir heute wirklich kompetente und professionell arbeitende Kompanien? Wo sind sie tätig? Unter welchen Bedingungen? Werden diese Ensembles tatsächlich genügend, also Existenz tragend engagiert? Werden sie wahrgenommen?

Werden sie gefördert? Oder gar regelrecht gemieden bzw. blockiert?

  1. Spielstätten

Die Freien Waldorfschulen waren eine Zeit lang unsere Gastgeber: die unerhörten Chancen dieser Waldorf-Bühnen …
Wurden/werden sie (noch) genützt? Waren/wären es nicht Chancen um eurythmische Kunst in der örtlichen Kulturszene zu verankern? Gilt das jetzt auch noch? Wo gelingt es? Was wird dort geleistet? Selbstkritische Auseinandersetzung ist erforderlich!

Aber auch: Dialog mit der örtlichen Bühnen-Szene … Wo lebt diese Auseinandersetzung, wo dieser Dialog? Würden wir diese Prüfung, d.h. Auseinandersetzung bzw. Konfrontation mit der zeitgenössischen Bühnen- welt bestehen? … So erlebt? Wo?

In welchen ‚öffentlichen’ Spielstätten/Kontexten traten/treten Ensembles auf und wozu führte/führt das? Wer saß/sitzt im Saal und schaut(e) sich solche Ensembles an? Gibt es Publikums-Untersuchungen? Wo stehen wir?

Erreichen wir überhaupt ‚Öffentlichkeit’ oder ‚nur’ Insider? Spielen wir immer nur auf eigenes Risiko?
Wie sieht es aus mit context-exploration? In welchen Kontexten wurde/wird aufgetreten?

Was sind die Erfahrungen? Wie wird auf den jeweiligen Kontext eingegangen?

  1. Professionelle Agenturen / Arbeitsformen

Impresariat/Agentur-Arbeit in den vergangenen Jahren: Imke Jelle van Dam, Thaddäus Heil, Jurriaan Cooiman… Jurriaan Cooiman und seine wunderbaren Impulse, die leider verpufften… Warum wurden sie nicht bzw. kaum aufgegriffen? Eurythmie-Messen, Forum-Treffen mit Versuchscharakter … Artist-in- Residence … Abonnement-Reihen (z.B. in Wien von Brigitte und Ernst Reepmaker initiiert) …

Imke Jelle van Dam hört nach 25 Jahren umfassendem Arbeiten in Holland auf. Ende einer Ära! Was folgt? Wie baut man einen ‚Markt’ für zeitgemäße Eurythmie auf? Wie wecken wir Interesse für diese/unsere Kunst? Das ist ein komplexes Thema, mit sehr vielen Nebenthemen.

Besteht (überhaupt) Interesse nach gut gebauter Infrastruktur für professionell arbeitende Gruppen? Vorher wurde ein mögliches Beispiel beschrieben. Wo gibt es weitere Initiativen, an die angeknüpft werden kann?

Bitte Erfahrungen und Ideen melden! Es geht doch darum, den Impuls großflächig fortzusetzen bzw. aufzubauen.

  1. Förderung und Finanzierung

Wo sind finanzielle Quellen? Wie wären diese erreichbar? Welche Kompetenzen braucht es dazu?

Können wir Geldinstitute und Gönner für unsere Sache gewinnen? Was braucht es dazu?

Vor allem eines nicht: Dogmatismus! Vor allem Ja zu künstlerischem Können, dramaturgischer Fantasie, Originalität, Bühnen-Esprit … Unternehmertum. Vernünftiges Mit-der-Zeit-Gehen. Mut! Lust! Selbstreflexion, Selbstironie, Dialog mit anderen Künsten/KünstlerInnen … Begeisterung für die Jetzt-Zeit …

Sich als KünstlerInnen gleichzeitig auch als UnternehmerInnen erfahren, präsentieren und einsetzen? Was beinhaltet das? Wie werden wir ernst zu nehmende und zuverlässige PartnerInnen für die Finanzeinrichtungen? Für Förderer?

Dieses fördernde Umfeld für professionelle Arbeit scheint mir nach wie vor viel zu klein zu sein, zu wenig tragfähig!

  1. Ausbildung

Wie bereiten Eurythmie-Ausbildungen tatsächlich und vor allem zeitgemäß auf die Bühnen-Wirklichkeit von heute vor? Wird z.B. Dramaturgie gelehrt? Wer unter uns kennt sich mit dieser Disziplin überhaupt aus?

Werden ChoreographInnen konkret ausgebildet und wird es also nicht dem Zufall überlassen, dass und ob sich die Studierenden die wiederum autonome Disziplin, Choreographie (Zusatz-Ausbildung?) tatsächlich aneignen?

Disziplinierte, später vollzeit arbeitende Bühnen-PerformerInnen: wo werden diese ausgebildet? Bestehen Erkenntnisse darüber, was gerade dazu tatsächlich in der heutigen Zeit an Skills und Tools gebraucht wird?

Wie wird Instrument-Schulung im modernen Sinne interpretiert, definiert und betrieben als einer wirklichkeitsgemäßen Grundlage für Eurythmie-Bühnen-KünstlerInnen?

Wie gehen wir um mit (herausragenden) Begabten? Gibt es sie? Wo? Wo werden sie gefördert? Wie?

Der zukünftige Eurythmist/die zukünftige Eurythmistin: (wie) werden sie ausgebildet, als autonome(r) UnternehmerIn tätig/aktiv zu sein? Bekommen die Studierenden, die das für ihren Weg brauchen, dazu tatsächlich ein Instrumentarium (an)geboten, das der Bühnen- und der gesellschaftlichen Wirklichkeit entspricht?

Nun aber tiefer in gerade diese Ausbildungsfrage hinein:

Sollten wir nicht längst, wenigstens an einigen Orten, eine Trennung von Ausbildungszweigen vollziehen:

  • Einerseits: Eurythmieschulung für Menschen, die ihre eigene innere Entwicklung und das eigene leibliche Wohl, usw. im Auge haben und
  • Andererseits: Ausbildung für (noch bildsame junge) Menschen, die mit äußerster Konsequenz eine professionelle Bühnenlaufbahn anstreben mit allen Anforderungen, die dazu gehören, d.h. eine zeitgemäße Profi-Ausbildung mit einem ganz eigenen, zielorientierten Profil!

Das hieße auch: diese Richtungen würden jeweils
mit stark divergierenden Ansätzen, Ansprüchen und Zielsetzungen eingerichtet und entsprechend jeweils von spezifisch qualifizierten KollegInnen gestaltet werden. Es gäbe dann unter Umständen eklatante Niveau-Unterschiede, gegeben durch die divergierenden Motivationen. Aber wäre das nicht gerade wünschenswert und zwar vom Anfang der Ausbildung an?

  1. Kritikfähigkeit

Welche EurythmistInnen und Kompanien betrachten sich selbst als professionell arbeitend? Warum? Nach welchen Kriterien? Wie konkret und ernst zu nehmen sind sie in ihrer kritischen Selbstbetrachtung? Wie werden sie von außen wahrgenommen?
Welche Kritiker betrachten diese Gruppen und KünstlerInnen – weil es überall sonst so ist – in ihrer Entwicklung? Wer schreibt kompetent-kritisch über Eurythmie und Eurythmietheater-Vorstellungen?

Gibt es auf Bühnentanz hin orientierte und versierte Kritiker, die über Eurythmie und Auftritte ihrer VertreterInnen publizieren? Wie kritikfähig sind
wir selbst? Wie selbstkritisch betrachten wir unsere Arbeit? Können wir die immer und immer wieder zementierten Bewegungsidiome und Formelemente
noch (aus)halten? Wie stehen wir zu der von uns innig ‚gepflegten’ Wiederholung des Gleichen? Suhlen wir uns nicht viel zu sehr im Selbstgefühl bzw. in unserem Hang danach, uns immer wieder an Vergangenem zu orientieren? Zu dieser Frage gehört Rudolf Steiner auch dazu. Finden wir den Weg nach vorne?

Wären wir zu Revolutionen fähig? Zu radikalen Umbrüchen? Oder kleben wir an Absichten, die längst nicht mehr aktuell sind? Können wir uns also auch Steiner und seinen Ansätzen gegenüber autonom aufstellen? Und dabei ganz im Sinne der eurythmischen Idee selbst schöpferisch völlig neue Potentiale ans Licht fördern und entwickeln?
Uns von Ideologie verabschieden …
Wo finden die Umbrüche statt? Wo findet das Ablösen von Paradigmen statt? Finden KollegInnen, die hier offensiv agieren, Anerkennung? Oder werden sie aus Hochmut, aus Unwille gegenüber Änderung/Wandlung und durch Realitätsferne missachtet? Oder gar aus Angst? Ich stehe zu der Offensivität dieser Frage, meine aber, dass sich das Bild schon seit einiger Zeit ändert. Gibt es neue Chancen?

  1. Zukunft

Wo liegen die wirklichen Herausforderungen vor uns? Und wo sind die KollegInnen, die dorthin einen vom Dogma befreiten Blick haben?

Müssen/Sollen wir immer noch ‚Eurythmie’ für Theater Schulbühnen produzieren? Welche anderen Kontexte gäbe es noch?

Suchen wir solche aktiv? Welche konkrete Fantasie ist hierzu erforderlich? Reicht unser ‚Eurythmie-Konzept’? Wer sucht? Wer befindet sich auf neuen Wegen? Wer findet sich zurecht, gestaltet an unerwarteten Orten, situativ frei?

Welche Instrumente stehen uns zur Verfügung um diese KollegInnen zu fördern?

Wird im Wesentlichen Tradiertes immer wieder aufgekocht und also vielerorts versäumt, die noch ungeahnten umfassenden Potentiale zu entdecken und zu entfalten? Wo sind KünstlerInnen, die dazu überhaupt über den nötigen Mut verfügen?

Wo gibt es ein Publikum, das sich genau das gerne anschaut und solche KünstlerInnen/Ensembles und ihre Wege liebt?

Wo gibt es Spielwiesen, Biotope, Versuchs-Labors, wo nach Herzenslust gespielt, gesucht, experimentiert, kooperiert, abgeschaut, geklaut, Verrücktes gepflegt, neues Idiom entwickelt, usw. wird?

Wo Besserwisserei und Anthro-Rost überwunden und tatsächlich Neues, bahnbrechendes entwickelt wird? Wo Trägheit, fehlende Fantasie und Dogmen verpuffen und Frische, Fantasie, Originalität und Aufbruch überhand gewinnen?

Wann und wo fallen Fassaden? Wann und wo weicht Schein?

Ernst Reepmaker, Februar 2018