Arbeitsblatt

Eurythmie anschauen

Ansätze und Kriterien zur Bewertung von Produktionen

Walk With Me – Kompanie Vonnunan / Foto: © Lena Engel

Qualität bewerten von performativen Kunstwerken und Eurythmieproduktionen im Besonderen, ist für mich immer ein subtiler und facettenreicher Vorgang. Ich schaue auf die Produktionen, ausgehend von Interesse, Respekt und Übersicht (Hintergründe, Kulturgeschichte, Stilfragen, usw.), und auf dieses spezifische Werk dieser KünstlerInnen, im Rahmen dieser Kunst und im Kontext unserer Zeit. Jeder Aspekt eines Eurythmieprogramms kann man in einem viel größeren Zusammenhang sehen und gleichzeitig als hervorgebracht aus einem individuell-biografischen Hintergrund. Es ist - und davon gehe ich bei jeder professionellen Arbeit aus - die Frucht eines tiefgehenden forschenden Prozesses, ein intensives und aufwendiges Spielen der Beteiligten auf hohem Niveau. Folgende Themen, Blickrichtungen, bzw. Kriterien können als Urteilsgrundlage für die Betrachtung von Produktionen mit Eurythmie dienen.
Veranstalter, Künstler/Gruppen und Geldgeber können diesen kleinen Katalog ebenfalls zur Orientierung nutzen. Hierzu nun von mir - in Form einer Skizze - Anregungen, basierend auf meiner Erfahrung.

Zur Einstimmung ein Text der Tanz-Dramaturgin Angela Dauber. Sie hat u.a. mit John Neumeier gearbeitet.

Über Fragen und Kriterien zur Bewertung einer Tanz-Produktion:

Was kann man sehen und unterstützen?
Originalität in der Bewegung? Gibt es etwas, das Überrascht?
Ist das formale Thema präzise ausformuliert und konsequent durchgeführt?
Ist die Choreographie musikalisch?
Wie ist Phrasierung und Dynamik, wie ist die „getanzte Zeit“? Bekommt die Abfolge (Durchdringung von Soli, Duetten, Trios und Gruppen) einen interessanten Aufbau?
Gruppenstücke haben vor allem größere räumliche Möglichkeiten, sind sie genutzt – und auch konsequent genug – oft ist Beschränkung besser als ein Supermarktangebot?
Ist in der Choreographie etwas unverwechselbar Persönliches, das nur dieser Choreograph hat und kann?
Und – last but not least – wo steht das Werk in der derzeitigen choreographischen Entwicklung?
Gibt es Neues, wird nach neuen Wegen gesucht? Denn Kunst will sich weiterentwickeln!

All das sind zwar objektiv wichtige Gesichtspunkte, aber die Kriterien lassen sich nicht festschreiben und die Antwort ist jeweils ganz subjektiv. Jeder sieht und denkt entsprechend seiner eigenen Person, seiner eigenen Anlagen und Begabungen, seiner eigenen Interessen und seines eigenen Informationsstandes. Jeder Dramaturg ist subjektiv. Und auch deswegen muss er sich zurücknehmen können, hinter die Subjektivität des Choreographen-Künstlers.

Foto: © Lena Engel

Thema EINS: Die Produktion / Substanz

Liegt dem Programm ein spezifischer Impuls zu Grunde, der in den Ensemblemitgliedern und in der Jetzt-Zeit ansetzt? Wird die Substanz Schritt für Schritt im Schaffensprozess vom gesamten Ensemble entwickelt auf Basis der Erfahrungen und Fähigkeiten aller? Indem die Entstehung der Produktion von allen Beteiligten gleicherma­ßen aktiv erzeugt wird, und also niemand nur ausführend tätig ist, entsteht ein authentisches Kunstwerk und keiner der KünstlerInnen ist austauschbar. Eine solche Produktion ist auch nie fertig, wird immer weiterentwickelt. Diese Arbeitsmethode wird nach dem ursprünglich Englischen Begriff devising genannt.

Wie wurde diese Arbeit vorbereitet?
Bestehendes Script – Choreograph/Regisseur/ Dramaturg? – Mit dem Ensemble / collaborative creation? – DarstellerInnen unter sich? – Improvisierend? Devised? Mit Endregie?

Stand eine Idee, eine Fragestellung oder eine Vision am Anfang?
Oder wurde spielerisch und organisch entwickelt?

In welchem Kontext haben diese Idee und dieses Konzept Relevanz?
Gesellschaft und Kultur? Zeitgeist? Innerhalb der eigenen Kunstrichtung? Biographisch/Individuell?

Wie wird aus diesem Hintergrund das Thema, bzw. die Dramaturgie abgeleitet, entwickelt?
Spielend? Nach einem vorab erfassten Konzept? Entwickelnd (‚devised‘)? Fragend? Nach Vorlage? Stimmig?

Erfasst das Thema das ganze Programm?
Ist es in alle Elementen durchgehend erzählend vorhanden? Mehrere Elemente/Fragmente? Nummernprogramm? Collage? Stringenter Aufbau?

Wie werden die künstlerischen Mittel, bzw. Disziplinen eingesetzt?
Adäquat? Fantasievoll? Variationsreich? Vielschichtig? Kompetent? Chaotisch? Sich ergänzend? Ästhetisch?

Ist das Ideenpotential – dramaturgisch stringent – ausgeschöpft?
Überraschend? Vertiefend? Multidimensional? Erschöpfend? Kurzweilig? Zu kurz gegriffen?

Wie ist der Aufbau?
 Komposition? Struktur? Gliederung?
Ziele/ Höhepunkte? Atem? Abwechslung?

Ist die Performance rhythmisch aufgebaut, komponiert?
Tempo? Dynamik? Längen? Pausen? Schwer/Leicht? Ernst/Humor? Stille/Hörbares? Leere/Sichtbares? Geheimnis/Offenbarung? Zeigen/Verhüllen?

Wie werden die Figuren eingeführt und entwickelt?
Sind sie lebendig? Facettenreich? Faszinierend? Fesselnd? Haben sie Tiefe? Sind sie ‚abstrakt’? Wie dialogisieren sie? Interaktion?

Wie ist die Gestaltung des Bewegungsidioms?
Gewöhnlich? Traditionell? Aufregend? Überraschend? Provozierend? Originell?

Wird mit Objekten, Gegenständen und Attributen umgegangen?

Spielerisch/Fantasievoll? Schlüssig? Stimmig? Konsequent? Überraschend?

Umgang mit neuen Medien?
Licht? Video? Sound? Mixed-Media. Dezent? Opulent? Stimmig?

Wie ist die Kostümierung?
Stilgerecht? Altmodisch? Schlicht? Passend?

Ort: Bühne – Raum – Einrichtung.
 Haben die örtlichen Gegebenheiten Relevanz?
Sind sie Inspirationsquelle? Werden sie einbezogen? Installation? Abstrakt? Statisch? Dynamisch?

Foto: © Lena Engel

Thema ZWEI: Ensemble / DarstellerInnen

Dann ist da die Frage nach der Qualität und technischen Professionalität. Beherrschen die SpielerInnen die diversen eurythmischen Bewegungstechniken umfassend, will sagen: das Instrument, der ei­gene bewegende Körper ist vollständig durchgearbeitet und ein weitreichendes Bewegungsregister ist lebendigst vorhanden. Wird dieses ganze Können in der Produktion gezeigt? Gute DarstellerInnen mit vielseitig ausgebildeten Registern und Spieltrieb zeigen von An­fang an ein ’Versprechen’, dass sie bis zum Ende halten, indem sie immer wieder neue Dimensionen ihres Könnens aufdecken bzw. zurückhalten (aber ahnen lassen).

Register in der Kunstfertigkeit – Und hier erwacht für mich eine neue Sicht auf die Möglichkeiten und Fähigkeiten der SpielerInnen. Wie bewusst gehen sie mit ihrer intensionalen Wirkung um? Werden ihre Talente, ihre eurythmi­schen Register vielseitig geweckt und eingesetzt? Treten alle Facetten ihrer Kunstfertigkeit hervor? Neue, unerwar­tete, einmalige, originelle und überraschende Seiten? Und das, belebt von einem ständig imaginierenden Sinn und durch Beherrschung der spezifisch-eurythmischen Bewegungstechnik.

Wie sind die SpielerInnen im Bühnengeschehen involviert?

Stars und Statisten? Homogene Truppe? Individualisten? Lauter Solisten? Teamwork?

Sind die Beteiligten vielseitig kompetent?
Technisch auf hohem Niveau? Vielseitig? Fähigkeiten-Register? Aussagekräftig? Energisch? Geistesgegenwärtig?

Ist gerade hier das Potential ausgeschöpft?
Bis an die Grenzen? Blockiert? Frei? Entfesselt?

Wie stehen die DarstellerInnen zu ihrer Kunst?
Kritisch? Selbstkritisch? Leidenschaftlich? Passiv? Offensiv? Überzeugend?

Wie zeigt sich dies in der Produktion?
Ist das auch so gewollt?

Weitere Mitwirkende?
Technik? Musikalische Begleitung? Assistenz?

Professionalität?
Auftritt? Das Drumherum? Präsenz im Haus?

Foto: © Lena Engel

Thema DREI: Beziehung zum Publikum

Ein weiteres Thema ist für mich: Wie wird das Publikum einbezogen bzw. angespielt? Hier ist nicht Animation gemeint, obwohl diese z.B. gerade bei Produktionen für Kinder und Jugendliche ein bedeut­sames eurythmisches Mittel sein kann. Erleben die Zuschauer, ohne sich dessen u.U. bewusst zu sein, die soge­nannte ‚Vierte Wand’ und wirkt das Geschehen auf der Bühne in sich wie hermetisch geschlossen? Oder dialogisie­ren das Werk und die Protagonisten mit dem Zuschauer? Wie wirkt, wie atmet es? Gelingt es?

Wie wirkt die Inszenierung, die Choreographie?
Konventionell? Provozierend/Weckend? Besänftigend? Verwirrend? Zeitgemäß? Anregend? Aufrüttelnd?

Wie wird die Aufmerksamkeit der ZuschauerInnen bespielt?

Belebend? Einbeziehend? Fordernd? Offensiv? Überhaupt?

Wie wird mit der Energie der ZuschauerInnen umgegangen?

Intelligent? Atmend? Überhaupt?

Werden Erwartungen geweckt und dann auch erfüllt?
Erfrischend? Ermüdend? Begeisternd? Enttäuschend?

Foto: © Lena Engel

Thema VIER: Dramaturgie oder über das Eigentliche

Geht eine Wirkung vom Programm und von der Art wie es gemacht wurde aus? Berührt diese Pro­duktion das aktu­elle Geschehen in der Gesellschaft? Geht es hier um erneuernde Aspekte im Umgang mit performa­tiver Kunst, insbesondere im Um­gang mit dem Medium Eurythmie oder EurythmieTheater? Was ist einmalig und unverwechselbar gerade an dieser Produktion? Was habe ich noch nie gesehen und was überrascht mich? Gelingt es diesen KünstlerInnen, etwas Neues aus der unendlichen Quelle ‚Eu­rythmie’ hervor zu holen, oder wiederholen sie, was ich bereits oft gesehen habe, aber sie ziehen es ein anderes Mäntelchen an? Ich erwarte von Kunst, gerade auch von eurythmischer Kunst, dass sie mich überrascht, verführt und mir Neues zeigt. Jede weitere Pro­duktion auf professioneller Ebene bringt Erneuerung, bringt Ur­sprünglichkeit.

Produktionsgestaltung als Zeit- und Raumkunst betrachten und üben.
Das Handwerk: das Komponieren der Zeitgestalt / das Arrangieren der Raumgestalt. Figuren und Storyboard. Energie- und Vitalitätspendende Vorgänge: über das Erfahren von Wirkungen – Atem – Leben.
Ein tragender Unterstrom im dialogischen Prozess zwischen den am Bühnengeschehen Beteiligten. Dialog mit dem Publikum – Entfaltung, Vertiefung und Differenzierung des Themas.

Erzeugt die Inszenierung intensive Momente? Werden Situationen und Bilder originell inszeniert? Erleben die ZuschauerInnen Kontraste, Brüche, Stops, Slow Motion, dynamische Veränderungen, Abwechselung, Vitalität? Nicht zu viel vom Selben? Wie atmet das Ganze? Ist die Inszenierung im Umgang mit Zeit und Raum musi­kalisch, plastisch, poetisch oder eher dramatisch angelegt? Ist das Werk in sich stringent? Liegt ein gezielter Span­nungsbogen der Dramaturgie zu Grunde? Welche Rolle spielen Musik und Sprache, spielen z.B. Objekte und Me­dien? Wie werden diese eingesetzt? Wird dramaturgische Präzision durchgehend erlebbar? Jede Interaktion, jede Eurythmografie ist Ausdruck einer spezifischen dramaturgischen Intention. Kommt es rüber?

Thema – Motiv – Phrase
Komposition / Beginn (Eröffnung) – Höhepunkt(e), Reprise(n), Modulation(en) – Ende (Abrundung). Pausen – Stille – Brüche – Schnitte – Kontraste – Umkehr – Verzögerung – Steigerung. Plastizität der Zeit – Musikalität der Zeit – Dramatik der Zeit.
Organik der Planung: Dramaturgie / Führung, Regie, Choreographie.
Phantasievoll gestalteter Spielprozess: organisches Entwickeln oder konzept- bzw. textgebundenes Abarbeiten.
Atem und Energiehaushalt: dynamisieren, vitalisieren, beleben, beruhigen, zu Einsichten führen. Spielen! Stille und was daraus werden kann … / Chaos und was daraus werden kann …
Bewegung – Gegenbewegung / Klimax – Antiklimax ‚Reflexion in action’ / Stimmung.

Foto: © Lena Engel

Thema FÜNF: Autonome Eurythmie

Oft erlebe ich, dass die Musik bzw. die Sprache, die gleichzeitig im Raum klingen, wäh­rend ich die Eurythmie anschaue, von mir und vom Geschehen Energie abziehen. Durch die Gleichzeitigkeit von Höreindruck und Bewegungserlebnis, spricht oder singt die Gebärde, die Bewegung, die Choreografie nicht für sich. Die Höreindrücke und die sich daran anschließenden inneren Interpretation nimmt der Bewegung ihre eigentliche autonome Qualität, selbst Sprechen, will sagen Aussage zu sein bzw. selbst Singen, singendes Bewegen zu sein. 

Hier ist m.E. ein Paradigmenwechsel nötig und möglich, hin zu selbst geschaffener und gelebter Zeit bzw. weg von der Bindung an das Hörbare hin zu selbst geschaffener und gelebter Zeit. Natürlich ist die hohe Symbiose von Hörbarem bzw. Unhörbarem und Gesehenem, Bewegtem grundsätzlich in der Eurythmie intendiert und wird von manchen KünstlerInnen in herrlicher Perfektion beherrscht. Aber sie muss nicht sein. Eurythmie kann autonom auf­treten und wird dadurch umso interessanter!

Foto: © Lena Engel

Thema SECHS: Ästhetische Vision

Und dann betrachte ich auch das ästhetische Konzept. Welche ästhetischen Ansichten wir­ken stilbildend in der Produktion? Schafft die Gruppe z.B. noch aus dem Geiste des Jugendstils? Ist das ästhetische Ansinnen noch immer darauf gerichtet diese künstlerischen Werte, die schon lange nicht mehr gelten (sei es denn im museal gemeinten Sinne) zu aktualisieren? Gibt es zeitgenössische ästhetische Visionen? Welche Facetten stellen sich die Spieler dabei vor? Welche Bewusstheit wirkt im Umgang mit den MitspielerInnen, mit dem Raum, mit der Zeit, mit der Intention der Bewegung?

Ernst Reepmaker, Wien
Stand August 2018

Bilder: Aus der Produktion „Walk With Me“ der Kompanie Vonnunan, 2015 / © Lena Engel