Eurythmie Salon Interview

Ein tätiges Erinnern

Gespräch mit Melaine MacDonald über ihren Beitrag "Von damals bis dato" innerhalb der Veranstaltungsreihe "Eurythmie Salon an der Alster“ im Rudolf-Steiner-Haus Hamburg | Mai 2021

Melaine MacDonald | Foto © Robert Hammel

Wie geschieht Erinnern für Dich als Eurythmistin, möchte ich von Melaine wissen. Der Untertitel ihres Rückblickes hieß "Toneurythmische Wege, die ich gegangen bin - von den 80ern bis heute" Da ich in Hamburg nicht dabei sein konnte, schaute ich zusammen mit ihr das Video an, dass von ihrer Vorstellung dort gemacht wurde. Und wir sahen einige Ausschnitte früherer Performances, auf die sie sich bezog in ihrer Rückschau. Wie ist es, nach langer Zeit Arbeiten anzuschauen oder wieder zu beleben? Als Germanistin arbeite ich ja mit Texten, ich fragte Melaine, ob sie in sich einen ‚alten‘ Text wiederlesen, eine Choreographie oder Bewegungsmuster wiederholen kann? Bei altbekannten Texten ist das erneute Lesen einerseits wie das Platz-nehmen auf einem herrlich eingesessenen Sofa und andererseits liest sich plötzlich völlig Neues und Unerwartetes und man springt förmlich vom Sofa auf. Sie antwortet mir, dass es ihr sehr ähnlich vorkomme, da es bei ihrem Rückblick ein tätiges Erinnern gab, wie ein nochmaliges Lesen und nicht nur ein daran Denken und Erinnern. Sie hat die Möglichkeit ausprobiert, in das, was früher geschaffen wurde, aktiv einzutauchen und es aus der jetzigen Lebenssituation heraus fragend neu zu erarbeiten. Also nicht ausschließlich in Stille in sich hineinzublicken, sondern die Bewegungen noch mal anzuziehen, zu befragen, ggf. neu zu finden und dann zu schauen, wie sie nun wirken. Wichtig hierbei immer die Frage, was war damals wesentlich und was ist es heute? Oder ob das Damalige nun stimmig oder befremdlich wirkt. Was mich auch interessierte und worauf meine Fragen vor allem abzielten, waren Momente in ihrer langjährigen eurythmischen Arbeit, in denen sie realisierte, dass sie für sich neue Wege gehen musste, dass sie sich Fragen stellte, ohne Antworten zu wissen, dass sie aus ihrem Erleben heraus auf Schwierigkeiten stieß, dass sie gerungen hat, dass sie sich in Krisen erlebte… konstruktiv gesagt, dass sie sich mit sich selbst und/oder anderen im Gespräch befand.

Melaine: „In dem wieder Hochholen von solistisch eurythmisch-musikalischen Arbeiten nach einer sehr langen Zeit sind Empfindungen, Gefühle und unterschiedliche innere Ebenen aufgetaucht, teilweise auch überraschend. Zum Beispiel kam bei einer Probe in der Vorbereitung für diese Veranstaltung mit Alan Newcomb (mit dem ich den Live-Teil des Abends aufgeführt habe), bei der Bettina Grube zugeschaut hatte, die Frage hoch, ob ich mein Abschlussstück von 1977 (1. Satz aus der F-Dur Klaviersonata von W.A. Mozart, Eurythmeum Stuttgart) zeigen sollte. Bettina war neugierig, ich hatte es seit Ewigkeiten nicht mehr aufgeführt und auch nicht daran gedacht, aber ich habe einen ganzen Teil aus dem Stegreif einfach gemacht. Es war überraschender Weise immer noch „da“. Es war ein gutes Gefühl, frisch und familiär, energetisch wie das Aufspringen vom Sofa! Als ich mich fragte, was wesentlich für mich damals war, erinnerte ich mich an die tiefgehende Teilhabe an der Schönheit und Lebendigkeit dieser Musik, die mich 100% begeisterte und ohne Frage motivierte. „Mittendrin“ sein zu können verdankte ich den toneurythmischen Anregungen von R. Steiner, vermittelt durch meine damaligen Lehrer. Der Zugang zur Bewegung aus dem Erlebnis der Musik, ein hörendes Bewegen und ein bewegtes Hören wurde gefördert und herausgefordert durch diese Angaben; die Strahlkraft der Tongebärden, die Innerlichkeit und Differenzierung der Intervallgebärden, die Verwandlung der Raumdimensionen in das Musikalisch-Zeitliche, die schwingende Raumformen; dies alles und noch viel mehr bildete mein Bewegungsvokabular.

Dadurch wuchs in mir eine Art zu bewegen aus der Empfindung, aus dem Erlebnis der Musik, um Musik ganzheitlich wahrzunehmen, wie mir während der Arbeit an dem Präludium in b-moll (Nr 22 BWV 867) von J.S. Bach noch mal klar wurde. Das Hochholen dieses Präludiums kostete im Gegensatz zum 1. Satz aus der Sonata von Mozart viel Arbeit. Der Grund war da, aber der Anschluss an einem großen Umkreis, die Übergänge, die Details und ein Gespür für das Ganze – es war eine lohnende Arbeit und es wurde mir gerade bei diesem Stück die toneurythmische Quelle deutlich bewusst, die mich durchgehend geprägt hat, bis heute. 1980 hatte ich mit der Arbeit an diesem Präludium begonnen. Grundsätzlich habe ich immer viel Zeit gebraucht, aber gerade hier hat es extrem lange gedauert, eine Gestaltung zu erreichen. Ich bin immer weggeträumt, weil die Musik so schön war, und nur allmählich fand ich durch die toneurythmischen Angaben einen Weg. Von da aus ging der Weg immer weiter. Es wäre viel zu sagen über die Arbeit an der Eurythmie-schule und Bühne Hamburg, beide von Carina Schmid geleitet. Das war ein tragender reichhaltiger Fluss, in dem ich eingebettet war. Ein Thema für einen weiteren ‚Salon‘. Ab 1990 begann ich ein Projekt „Zeitgenössischer Musik und Eurythmie“ mit Elmar Lampson (Komponist) und Ulrike Bauer Wirth (Pianistin) und habe vier Kompositionen aus dieser Arbeit im Salon gezeigt. Ich sehe deutlich, dass der toneurythmische Zugang einen Weg ermöglichte, verschiedene Welten sehr unterschiedlicher Komponisten gründlich nachzugehen und jeweils zu entdecken. Das außerordentlich Wertvolle an dieser Arbeit war die Auseinandersetzung mit der Wandlung unseres menschlichen Bewusstseins im 20. Jahrhundert durch musikalisch-eurythmische Erlebnisse am „eigenen Leib. Jeder Komposition (B. Bartok, A. Webern, G. Ligeti, G. Kurtag und E. Lampson) forderte einen anderen Zugang und Handhabung meiner damaligen Eurythmie. Elmar hat sich mit der Trennung der menschlichen Seelenkräfte von Denken, Fühlen und Wollen im 20.Jahrhundert befasst. Das war auch das Thema dieser Aufführungsreihe, die wir zwei Jahre lang aufgeführt haben. Bei der neuen Erarbeitung war der Ausdruck dieser Kräfte in ihrer notwendigen Vereinseitigung für mich noch deutlicher geworden. Und in der neuen Aufarbeitung von „Passion“, dem zweiten Satz aus „To Axion Esti“, die Elmar für Klavier solo komponiert hatte, merkte ich, dass ich jetzt mehr begreife, als ich es damals konnte. Der Gefahr des Auseinandergerissenwerdens zu begegnen fordert mehr zwischen den Motiven, mehr Licht, mehr Bodenlosigkeit. Es braucht, tiefer, extremer in die Materie zu gehen, um schließlich eine fragile Balance für ein Paar Momente am Schluss entstehen zu lassen. Also viel mehr Kontrast meinerseits, um die Musik durch meine Bewegung überhaupt annähernd zu treffen. Beim Schauen der Dokumentation war das für mich klar. Beim Proben mit Elmar am Tag vor dieser Veranstaltung dachte ich, wegen einer solchen Zusammenarbeit und dem gemeinsamen Ringen um das, worum es geht, dafür mache ich das!

Petra: Wenn ich die Bewegungen sehe von Stuttgart 1977 und dann spätere Arbeiten wie zum Beispiel in der Stahlhalle Dortmund oder in der Stanzfabrik Bochum anschaue, sehe ich riesige Unterschiede. Zum Beispiel zwischen Sicherheit und Unsicherheit. Ist das so?

Melaine: Ja. Du sprichst zwei Performanceprojekte aus den Jahren 2004 und 2005 an. Eine ganz andere Phase. Sie waren in der zweiten Hälfte des Eurythmie Salons als Filmausschnitte zu sehen. Beide Aufführungen waren „site specific“: Der Ort wurde inkludiert in den Gestaltungsprozess. Zum einen bei einem Improvisationsabend in der Stahlhalle der DASA in Dortmund und zum anderen in der alten Stanzfabrik Bochum die vor Ort über zwei Wochen entwickelt wurde. Beides forderte mich heraus, mehr mit meiner Umwelt und dem, was um mich herum ist, umzugehen. Nichts war sicher.

Viel hat von Morgen an, Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.
[Fr. Hölderlin, Friedensfeier, z.B. Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 2, Stuttgart 1953.]

Petra: Bei den Aufnahmen mit Tadashi Endo sehe ich ein Suchen, Tasten, Abwägen, Zögern. Wie war das innerlich auszuhalten? War das eine wichtige Stelle, an der Du etwas gelernt hast, weil Du etwas nicht ‚konntest‘?
Hattest Du Angst zu versagen?

Melaine: Als Katharina Adam (Eurythmistin) und Dr. Hendrik Vögler (1948-2015) mich damals einluden, am Abend „Dazwischen“ (öffentliche Feier zum zehnjährigen Jubiläum der Ita Wegman Klinik in der Stahlhalle der DASA Dortmund) teilzunehmen, habe ich spontan zugesagt. Es kam nicht in Frage nein zu sagen. Unsicher war ich schon! Ich hatte immer wieder zwischendurch Angst, ja! Ich wollte aber Kunstschaffenden aus anderen Richtungen begegnen und dieses Bedürfnis war stärker als meine Unsicherheit. Ich lernte dort, mich dem Moment zu stellen. Ganz da zu sein, bereit, ohne zu wissen, wie es ausgehen würde. Tadashi Endo (in Japan aufgewachsen, in Deutschland lebend) war hierin ein Meister. Er agiert souverän und vollkommen anwesend im Zustand des Nichtwissens.

Petra: Ich sehe ein Video, in dem ein Butoh Tänzer und eine Eurythmistin in einer riesigen Halle inmitten einer Maschinerie der Stahlindustrie aus den 1950er Jahren. Zuerst ist jede/r für sich, nebeneinander, später miteinander.
Wie war die Kommunikation zwischen Euch, was waren Klippen dieser Begegnung?

Melaine: Bis auf das Adagio in g-moll für Geige von J.S. Bach am Anfang war alles improvisiert. Ich hatte mich vorbereitet in dem ich mich zunächst alleine mit Aufgaben und Motiven improvisierend auseinandersetzte und übte. Michael Kiedeisch (Percussionist und Komponist) hatte zwei Stücke von J. Cage für Percussion, Geige und Klarinette arrangiert. Alles andere war von den drei Musikern improvisiert. Im Moment des Aufführens habe ich gar nicht darüber nachgedacht, wie die Unsicherheit auszuhalten wäre: „Sink or swim“. Proben kam für Tadashi nicht in Frage. Wir hatten abgesprochen, dass wir uns nicht absprechen, dass wir alles geschehen lassen und schauen, ob wir uns begegnen oder eben nicht. Wir begegneten uns, und es war einer der stärksten Momente, die ich erinnern kann. Beim Butoh ist es so, dass der Tanz sehr stark auf direkter Wahrnehmung beruht, tief innerhalb der eigenen Nerven, Sehnen, Muskeln. Intensiv und sehr ruhig gleichzeitig. Die Frage war für mich, wie tief kann ich mit meinem eurythmischen Zugang gehen, dem „Jetzt“ begegnen. Was will jetzt stattfinden? Es gab in mir Kraft, dieses Risiko einzugehen, ohne das Gefühl, es zu ‚können‘. Die Wahrnehmung meiner eigenen Widerstände tauchte auf, ebenso wie ein Bedürfnis, aufs Glatteis zu gehen, um andere Kapazitäten zu finden oder eben auch nicht. Sich zu trauen.

Petra von der Lohe

Petra: Benutztest Du immer ein ähnliches eurythmisches Vokabular? Übtest Du das so lange, bis Du es ‚beherrscht‘ hast? Gibt es eine feste Textur in der Eurythmie? Variierst Du eurythmische Strukturen wie in der Lyrik alte feste metrische Formen mit Alltagssprache oder anderen Sprachstilen kombiniert werden? Suchst Du, wie oftmals in der zeitgenössischen Lyrik, nach einer freien Form, die für jede Arbeit neu gefunden werden will?
Wenn ja, findet diese Form sich selbst oder findest Du sie?

 

Melaine: Das Üben ist immer da! Ob ich mich festfahre, oder ob es zur Freiheit und Spontanität im Aufführungsmoment führt, liegt an mir, egal ob eine gestaltete Interpretation oder eine Improvisation. Ich würde sagen, dass ein Vergleich mit klassischer, zeitgenössischer oder improvisierter Musik in diesem Falle treffender wäre. Eine feste Textur in der eurythmischen Arbeit muss auf keinen Fall sein, obwohl ich weiß, dass einiges sehr ähnlich aussehen kann. Ich kann nur für mich selber jetzt reden und merkte in den 90er Jahren immer mehr, dass ich in Gewohnheiten steckte. Ich fühlte mich in den Armen, im Brustbereich und im Umraum zu Hause, aber unten nicht durchgearbeitet. Zum anderen fühlte ich mehr und mehr die Notwendigkeit, Dingen im Leben, in mir selbst und in der Kunst begegnen zu können, die problematisch waren. Das hieß, Unbekanntes zu probieren, teils unbeholfen zu sein, meine Sicherheiten loszulassen und andere Ebenen der Kreativität zu aktivieren, die vorher stumm waren. Woraus werden meine Bewegungen erzeugt die aus meiner Begegnung mit einer Situation, einem Thema oder einem Motiv entstehen? In dem Filmclip von „Four Pieces“ 2001 kann man einen dieser Versuche von damals sehen: Das Entstehen einer Miniaturkomposition aus einem kleinen Bewegungsmotiv. Letztendlich hatten wir Konsonanten aus der „Evolutionsreihe“ diese Aufgabestellung zu Grunde gelegt. Danach brachten wir diese Sequenzen in Zusammenhang mit den Zwölf Mikroludien für Streichquartett von G. Kurtag. Es war wie ein Gespräch zwischen den Bewegungen, die aus diesen zwölf Konsonanten gewonnen waren und den zwölf musikalischen Miniaturen. Es öffnete neue Dialogebenen für uns.

Petra: Diese Arbeit wurde aber sehr kritisiert damals.
Wie war das für Dich? Wie ist das heute?

Melaine MacDonald | Foto © Niklas Stålhammar

Melaine: Die Reaktion war sehr gemischt. Das kommt oft vor in einem künstlerischen Unternehmen. Auch wenn ich mir gewünscht habe, dass unsere Szene vielfältiger zwischen Tradition und „cutting edge“ sein könnte, zwischen verschiedenen Fragestellungen und Genres, war es doch so, dass diese Art des Festivals, so vielfältig wie es in 2001 in Dornach stattgefunden hat, nicht mehr unternommen wurde. Neue Formate wurde unternommen, die Arbeit und das Leben geht weiter. Heute bin ich nicht mehr wie früher im Performativen viel unterwegs. Mich interessiert es jetzt in der kollegialen Arbeit, innerhalb und außerhalb des Eurythmischen, zum Thema Mensch und Bewegung zu forschen. Ein kleines intergenerationelles Netzwerk von verschiedenen Kolleg:innen bildet sich zur Zeit zu diesem Thema. Es war sehr wesentlich für mich, mit Tille Barkhoff u. Bettina Grube an dem Salonprojekt einige Male zu proben. Die gemeinsame, offene, intensive Arbeit war Gold wert.

Petra: Was würdest Du heute an einer bestimmten Stelle einer bestimmten Arbeit ändern? Wärst Du grundsätzlich reduzierter, stiller, vorsichtiger? Oder lauter, deutlicher, forscher? Würdest Du Dich anders kleiden? Welche Rolle spielt überhaupt Kleidung? Zum Beispiel bei der Arbeit zum Nocturne in c-Moll Op. 48 Nr. 1 von Chopin, in der du einen schwarzen Mantel trugst. Bei der Aufführung in Hamburg hast Du einen Teil hiervon live wieder aufgeführt.

Melaine: Der Beginn dieser Arbeit lag im Jahr 2007. Ich wollte so gehen, wie diese Musik geht. Es hat eine Unbedingtheit und Eleganz zugleich. Ich wollte Chopin als Lehrer haben. Aus dem Gang hat sich eine neue Ausarbeitung entwickelt, in der sich eine einsame Figur herauskristallisierte.

Petra: Ja, wie ist es, wenn etwas sich materialisiert?
Wie ist es, das Gehen, einen speziellen Gang zu erforschen, wie ist der Zusammenhang zur Musik?

Melaine: Ich musste lange tasten, um die Schritte dieser Figur zu finden, Schritte eines nächtlichen Spaziergangs. Man geht und gleichzeitig passiert so viel im Inneren. Ich bin dieser musikalischen „Figur“ ‚nachgegangen‘. Die Art, wie Chopin den Schritt seiner Nocturne, den Takt, „gehen“ lässt, ist permanent präsent. Von heute ausgesehen, würde ich noch tiefer in die Schichten dieser Komposition eindringen wollen und gleichzeitig intensiver und sensibler die emotionalen Gefühlsebenen erkunden. Dagegen war das Stück „Ophelia“ von J. Cage eine Gestaltung aus der Reaktion. Die Musik kommt teils aggressiv auf einen zu, trifft einen ‚von außen‘ und verursacht Bewegungen ‚im Inneren‘. Also ein ganz anderer Ansatz: Wie gescheucht oder bedroht. Cage hat mit Konventionen gebrochen und hat sich allem, was klingt, hingegeben. „The Roaring Silence“ war der Titel einer Sammlung seiner Schriften und Äußerungen. Ich habe viel von ihm gelernt.

Petra: Wie war die Begegnung mit Wolfgang Sellner, dem ersten Cellisten der Bochumer Symphoniker? Eine Aufführung im Bochumer Stanzwerk 2005. Ich sehe Dich im Film unendlich langsam auf einer Lichtstraße in Richtung des Cellisten bewegen, der unter einem Ölfass im Fabrikgebäude saß und spielte.

Melaine: Als „Try out“ (Work in Progress) wurde diese Arbeit zuerst gezeigt beim Solo Eurythmie Festival in Den Haag 2005 in Zusammenhang mit Probenaufnahmen im Stanzwerk der Fabrik Bochum. Ich hatte am Abend davor „Brahms und Körpersprache“ aufgeführt und war eigentlich verausgabt. Da habe ich eine Art Krise erlebt da ich nicht fähig war, den Moment zu packen. Wenn etwas noch unterwegs ist, teils gefunden und noch offen, dann, gerade dann darf man nicht müde, sondern muss sehr wach, präsent und gegenwärtig sein. Ich war es nicht, fühlte nicht, woraus ich schöpfen konnte, wo ich meine Kraftquelle finden könnte. Zum Bühnenbild gehörte ein schwarzen Cello- Kasten. Ich bin für einige Momenten an einer Stelle einfach hineingekrochen. Es entstand Irritation, die auch zum Thema dieses Projektes passte, zum Tod, zur Grenzüberschreitung. Ich war irritiert, das Publikum wurde dieser Irritation ausgesetzt, wurde nicht unterhalten, sondern einbezogen in mein Suchen, mein mich verstecken Wollen. Ich konnte niemanden ‚mitnehmen‘, habe etwas probiert und bin gescheitert. Und doch konnte ich erfahren, dass ich Disharmonien einschließen kann und nicht ausschließen muss. „cellodances 1“ war Titel dieser Performance, einer Anfrage der Bochumer Symphoniker innerhalb ihre Kammermusikserie in der Stanzfabrik. Kompositionen waren u.a. von Wang Jue (Komponist und Prof. für Komposition in Peking)) und Elmar Lampson (Komponist, Präsident der Musikhochschule für Musik und Schauspiel Hamburg). Deren Kompositionen waren jeweils geschrieben nach dem Tod eines sehr nahen lieben Menschen. In und zwischen dem alten Ölfass, dem Ofen und der Stanzmaschinerie war ich wie ein seltener Gast, der Abschied nahm. Bei Jue`s Stück „Si“ (der Tod, oder so dünn wie ein Haar) das im Film zu sehen ist, bin ich unendlich langsam gewesen. Jue wollte es eigentlich noch langsamer haben, so dass der Raum dicht wurde, tastbar und fühlbar. Elmar wollte, dass sein Stück aus einer ungeheuren Bewegung plötzlich in einen tastenden Ewigkeitsraum einbricht, wie eine Implosion in die Stille. Solch eine intensive und längere Arbeit mit den Komponisten, von denen jeder in einer anderen Welt war: Das war es, was wesentlich war.

Petra: Zuletzt im Film zu sehen ist eine Performance zu Brahms und Körpersprache, eine Aufführung zur Ruhrtrienale 2005 mit dem WDR-Orchester und Chor und dem Dirigenten Rupert Huber. Das war Brahms und Körpersprache, Aufführung in der Ruhrtrienale 2005 mit dem WDR-Chor und Orchester, In diesem Ausschnitt bist Du alleine, aber ich weiß, dass Du mit zwei anderen Tänzer:innen, Doris Huber (Bütohtänzerin) und Mikko Jairi (Ballett Tänzer) aufgeführt hast. Du wirkst wie eine Gestalt aus einer Oper oder aus einem musikalischen Mythos. Manchmal intensiv, manchmal minimalistisch. Wie ist es, wenn Du heute darauf schaust?

Melaine: Als die Anfrage von dem Dirigenten Rupert Huber Anfang 2004 kam, war es klar, dass ich das nicht alleine stemmen konnte! So fragte ich letztendlich die beiden KollegInnen, die aus anderen Tanzrichtungen kamen. Es ging um ein Gespräch mit unserem jeweilig unterschiedlichem Bewegungsvokabular mitten in den mächtigen Klängen und Bilder von Brahms. Lukas Sheja von der Schauspielausbildung Artrium Hamburg, an der ich zu der Zeit unterrichtete, war unser Coach. Durch die Vertonungen von Brahms zur Dichtung von Goethe, Schiller und Hölderlin inspiriert und bewegt, haben wir Wege der Begegnung und verschiedene Situationen und Zustände miteinander erforscht. Drei Figuren aus Goethe`s Parzenlied prägten die Kostüme, Tantalus, eine Parze und Iphegenie. Wenn ich das heute anschaue, sehe ich anregende und intensive Passagen und einiges, das doch auf der Strecke blieb. Da wir nur zwei Aufführungen hatten und ein freies Projektensemble waren, konnten wir nicht länger daran arbeiten, um das, was wesentlich war, noch treffender zu greifen und gestalten.

Petra: Wie fühlst Du Dich jetzt, nach dieser Rückschau in Hamburg und nach unseren Gesprächen, in denen Du vieles hervorgeholt hast?

Melaine: Ich erlebe dieses tätige Erinnern und Rückschau als einen Anfang. Ich bin in einer Lebensphase, wo ich auf viele Jahrzehnte zurückschauen kann und gleichzeitig bin ich wieder am Anfang. Ich schaue auf den Weg, den ich gegangen bin mit tiefer Dankbarkeit für meine Weggefährt:innen, die mir vieles mitgegeben haben und von denen ich vieles gelernt habe. Mein Beitrag zum Thema der menschlichen Bewegung kommt mir vor wie ein Ringen, um an einen Kern heranzukommen, um Menschen tiefer zu verstehen in den Bewegungen unseres verkörperten Seins. Das Feld des Eurythmischen gibt tiefgehende Anregungen und Perspektiven für diejenigen, die Sprache und Bewegung, Spiritualität, innere Bewegung im Verhältnis zum Äußeren erforschen wollen. Ich bin eine von denjenigen. Ich bin durch die Fragen, die in meiner Auseinandersetzung und durch Erlebnisse mit der Eurythmie und Anthroposophie stark angeregt worden sind, auch im Dialog mit Menschen und Studienrichtungen anderer Herkunft, die sich ganzheitlich mit dem Menschen befassen. Es sprengt den Rahmen hier, sie alle zu benennen. Viele Beitragende gibt es, die mit Menschen und Bewegung in Beziehung zu relevanten Themen unserer Zeit intensiv arbeiten. Können wir mehr zusammenarbeiten?

Danke für Deine Fragen, Petra!
Bleiben wir dran!